2014: Vier Tage Krieg in Nikolajewka. 4 Tage, in denen Kinder zu Erwachsenen wurden. 4 Tage, in denen jeder in dieser Stadt verstand, was das Leben kostet. Diejenigen, die in der Stadt blieben und es an der eigenen Haut erfuhren und diejenigen, die wegfuhren und sich um ihre Familie, Verwandte und Freunde vor Ort grämten. 4 Tage, in denen auch die Menschen dieser Stadt einander näher kamen.
Nikolajewka. 1500 Einwohner. Donezker Gebiet im Osten der Ukraine. Industriestadt. Sowjetische Wohnhäuser. Die Elektrostation. "Stanzia", wie sie auf Ukrainisch heißt. Die meistens Erwachsenen arbeiten in der örtlichen “Stanzia”.
Wenig Möglichkeiten für die Freizeitgestaltung. Die Erwachsenen kämpfen täglich ums materielle Überleben, aber die Kinder und Jugendlichen empfinden einen Drang zu leben. Ein schönes Leben zu leben. Ein lebendiges Leben im Kontrast zu der statischen sowjetischen Architektur der Stadt.
Die "Stanzia" ist das Herz der Stadt.
Wie es der 15-jährige Schüler Vlad ausdrückt.
Um die Stadt herum: Eine malerische Natur. Im Sommer ein Kosmos, im Winter ein ganz anderer.
Ich fahre jetzt schon die letzten 5 Jahren in den Donbass und habe davon die meiste Zeit in Nikolajewka verbracht. Es war die erste Stadt, in die ich mehr oder weniger zufällig geraten bin.
Ende 2014 verabredeten wir mit der ukrainischen DramatikerIn Natalia Vorozhbyt ein gemeinsames Theaterprojekt über den Maidan zu besprechen. Kaum in Kiew angekommen teilte mir Natalia mit, dass sie morgen in eine kleine Stadt im Donbass fahren wird, die schwer von den Kriegshandlungen betroffen war. “Komm einfach morgen mit”.
Die Freiwilligenorganisation “Neuer Donbass” unter der Leitung von Larissa Artjugina half die örtliche Schule Nr.3 in der Stadt Nikolajewka wieder aufzubauen, die vom Krieg teilweise zerstört war. Sie reparierten u.a das Dach und die ziemlich zerstörte Aula.
Ich kam einen Tag später nach. Der Manager des Projektes Alexander Fomenko holte mich mit einem Mikrobus vom Bahnhof in der Stadt Slavjansk ab. Auf dem Weg nach Nikolajewka fuhren wir an vielen Ruinen, zerstörten Häusern, beschossenen Wänden und Zäunen vorbei. Wir hielten an der Kreuzung in “Semjenovka” an. Alles um uns herum zerstört. Niemand hatte etwas aufgeräumt. Glassplitter und Müll auf der Straße und in den Ruinen. Dazwischen ein Kinderstiefel. Dann plötzlich ragten aus dem Schnee die Ruinen eine riesigen alten Gebäudes. “Die ehemalige Psychiatrie, die den Separatisten als Hauptquartier diente”, wie Sascha erklärte
In Nikolajewka gingen wir nur auf dem Bürgersteig, nie auf der Erde. Die Vorsicht vor vergessenen Granaten war sehr groß. Wir gingen in der Stadt auch nur in Gruppen. Die örtlichen Bewohner waren am Anfang nicht besonders freundlich zu uns. Wir wurden einige Male beleidigt, aber man spürte es am meisten in den Blicken.
Ungefähr zwanzig Volontäre bereiteten zusammen mit den Schülern und Lehrern der Schule #3 die Feier zum St. Nikolaus Tag vor, nachdem die Stadt ja benannt wurde, was aber nie gefeiert wurde.
Ich bin technisch oder handwerklich nicht besonders begabt und nicht nur deshalb war ich bei den Vorbereitungen des Festes keine besonders große Hilfe: Mich nahm die Situation und Atmosphäre in der Stadt sehr mit. Und dafür schämte ich mich dann auch, weil ich noch nie zuvor im Leben gesehen hatte, mit welcher Hingabe und Liebe die angereisten Volontäre versuchten dieser Feier für die Menschen an diesem Ort vorzubereiten, Ich verliebte mich in sie und gleichzeitig durch sie in die Ukraine.
Der Volontär Alik Sardarian hatte damals die Idee, dass ich dann bei der Feier in der Rolle des St. Nikolaus auftreten sollte. Ich hatte damals lange Haare, einen langen Bart, sprach mit Akzent, als käme ich “ganz von weit her”. Außerdem war ich natürlich auch etwas beleibt. In dieser Rolle besuchte ich alles Klassen der Unterstufe. In den ersten und zweiten Klassen glaubten sie, dass ich wirklich der Nikolaus bin. In der dritten gab es schon die ersten Zweifel und Fragen. Noch ca 2 Jahre lang, wenn ich im örtlichen Supermarkt einkaufen ging, kam es vor, dass ein Schüler plötzlich laut rief “Mama, Mama, hier ist der Nikolaus”.
Aber am meisten berührte mich, als ich in der Nacht vor meinem Auftritt weit über 100 Briefe von Schülern las, die dem Nikolaus gewidmet waren:
“St. Nikolaus, ich wünsche mir Frieden in der Ukraine, und ein Hündchen”
“St. Nikolaus, ich wünsche mir Frieden in der Ukraine, und dass niemals wieder jemand auf meine Eltern schießt”
“St. Nikolaus, ich wünsche mir Frieden in der Ukraine, und das neue IPhone”.
Ich bin nicht St. Nikolaus und kann keinen Frieden in den Osten der Ukraine bringen. Aber ich wollte unbedingt den Schülern vor Ort helfen, die auf eine solche brutale Art und Weise das Vertrauen in die Welt der Erwachsenen verloren hatten. Und dadurch auch in sich in der Zukunft. Ich wollte dazu beitragen, dass sie einen Teil dieses Vertrauens wieder gewinnen könnten. Ich verstehe, dass man in eine erwachsende Welt, die solche schrecklichen Dinge macht, kaum noch Vertrauen haben könnte. Außer Theater und in Ansätzen Film und zeitgenössische Kunst kann ich nicht wirklich viel. Mit Theater kann man keine Wunden heilen, aber es kann immer heilend wirken, wenn Menschen viel Sinn, Freude und offenem Herzen Theater machen.
Ich sah sehr deutlich das Bedürfnis von vielen jungen Menschen in Nikolajewka auszusprechen, was sich während des Krieges so tief in die Seele eingegraben hatte. Man spürte so sehr den Wunsch der Schüler sich mitzuteilen, was in diesem Augenblick in der Familie, mit Freunden oder in der Schule nicht möglich war. Natalia Vorozhbyt und ich wollten Theater machen, indem unsere Schüler gehört werden würden. Nicht nur in Nikolajewka, sondern überhaupt in der Ukraine und in Europa. Wir wollten, dass diese Schüler sich nicht mehr als Opfer ihrer Geschichte empfanden, sondern als Helden ihrer eigenen Biografie, die mit ihren Worten und Geschichten auf der Bühne auch anderen Menschen helfen konnten, ihre schrecklichen Erlebnisse in dieser Zeit zu verarbeiten.
Jetzt 5 Jahre später, nach über 20 gemeinsamen Projekten mit den Schülern aus Nikolajewka, inszeniere ich zusammen mit meiner Co – Regisseurin Viktoria Gorodinskaya in Nikolajewka mit einer neuen Generation von Schülern “Momo” von Michael Ende. Viktoria Gorodinskaya war 13 und Schülerin dieser Schule als ich sie kennengelernt hatte. Jetzt ist sie 18 und studiert Regie an der Karpenko-Karovo Universität in Kiew.
Ein sehr schöner Moment war, als wir diesen Sommer Probenergebnisse von Momo anderen ehemaligen Schülern der Schule, die in unserer ersten Inszenierung “Mein Nikolajewka” (2015) mitwirkten, gezeigt hatten. Sie standen uns mit ihrem Rat und ihrer Erfahrung bei Seite.
Ich hoffe sehr, dass wir mit ihnen noch viele weitere Projekte mit neuen Schülern in Nikolajewka machen können.
Ich habe das Gefühl, dass der größte Konflikt hier in Nikolajewka jetzt nicht mehr zwischen den Separatisten, den russischen Soldaten in den besetzten Gebieten, und “der Ukraine” stattfindet, sondern zwischen der Idee einer modernen Ukraine und der sowjetischen Vergangenheit. Und das diese Vergangenheit den Menschen hier die meisten Wunden zufügt.